Keiner kommt mit heiler Haut davon: Die „Grunts“ von der 173. Airborne in Dak To im Jahr 1968.
Foto: dpa
Bis vor zehn Jahren haben sie zum
Stadtbild von New York gehört, die zerzausten Gestalten in Armeejacken,
die in ihren Rollstühlen durch U-Bahnhöfe irren und mit Styroporbechern
um Geld betteln – Figuren, die direkt dem Oliver Stone-Streifen „Born on
the Fourth of July“ zu entspringen schienen. Doch heute sind sie selten
geworden. Die Vietnam-Veteranen sterben aus auf den Straßen Amerikas,
sie sind alt geworden. Die nächste Generation derer, die ein
vermasselter Konflikt in einem fernen Land an Leib und Seele verkrüppelt
wieder ausgespuckt hat, hat ihren Platz eingenommen. Heute sind es die
Irak- und Afghanistan-Veteranen, die den Bordstein des Times Square
bevölkern.
Der Vietnam-Krieg ist seit dem 11.
September 2001 ein wenig aus dem Bewusstsein des Landes entrückt. Als
Material für Kriegskino etwa schaut man heute eher in den Nahen Osten,
wo die jüngeren Erfolgsstreifen „Zero Dark Thirty“ und „American Sniper“
spielen. Und doch ist das Trauma des Vietnam-Krieges tief in die
amerikanische Seele eingebrannt.
Es gibt wohl kaum
ein Ereignis der vergangenen 70 Jahre, dass so profund die USA
verändert hat, wie dieser Krieg. „Der 30. April 1975“, schrieb das
Polit-Magazin „The Nation“ in dieser Woche anlässlich des 40.
Jahrestages der Evakuierung der Saigoner Botschaft, „ist in vielerlei
Hinsicht für Amerika bedeutsamer als Pearl Harbor oder der 11.
September. Das Datum hat von Grund auf geändert, wie Amerika sich selbst
empfindet und über sich selbst nachdenkt.“
Das Trauma vom 30. April 1975
Amerika
vor Vietnam war ein weitestgehend geeintes Land. Der Zweite Weltkrieg
hatte ein unerschütterliches nationales Selbstbewusstsein als
moralischer und politischer Anführer der freien Welt geprägt. Der
Nachkriegswohlstand hatte einen breiten Wohlstand erzeugt. Das Gros der
Amerikaner war zufrieden. Mit Vietnam änderte sich jedoch alles. Das
Vertrauen in das eigene Land und die eigene Regierung, das bis dahin
beinahe unerschütterlich erschien, wurde unwiederbringlich zerstört.
Als
schillerndes Symbol dieser Desintegration stehen bis heute die Pentagon
Papers, jener interne Bericht des Verteidigungsministeriums über den
Stand des Vietnam-Kriegs, der 1971 in die Hände der „New York Times“
fiel. Die Pentagon Papers enthüllten, dass die amerikanische Regierung
die eigene Bevölkerung systematisch angelogen hatte. Bis zu diesem
Zeitpunkt hatten nach Umfragen 76 Prozent der Amerikaner der Regierung
getraut. Nach 1971 fiel diese Rate dramatisch ab, verstärkt noch durch
den Watergate-Skandal im Jahr 1974. Das geeinte Amerika begann zu
zerbröckeln, Skepsis und Zynismus machten sich breit.
Die
amerikanische Psyche war angeschlagen. Wirklich verheerend war jedoch
erst das Trauma vom 30. April 1975. Für viele Amerikaner war es
unfassbar, dass Amerika trotz militärischer und politischer Größe – und
vor allem trotz der vermeintlichen moralischen und ideologischen
Überlegenheit – diese Niederlage einstecken musste.
Die späteren Kameraden in Helmand, 2010.
Foto: rtr
Am unmittelbarsten war die veränderte Gefühlslage
des Landes in der Pop-Kultur zu spüren. So schrieb die legendäre
Filmkritikerin Pauline Kael in ihrem Essay „After Innocence“ – Nach der
Unschuld: „Der Vietnam-Krieg wird bislang noch kaum auf der Leinwand
gezeigt, aber man spürt ihn überall. Es herrscht eine überzeugungslose
Stimmung, eine Abwesenheit gemeinsamer Werte. Brutalität wird
hingenommen, Helden glauben an nichts und tun nicht einmal so.“
Laut
dem Film-Historiker Peter Biskind war die gesamte Hollywood-Produktion
der 70er Jahre von dieser Stimmung geprägt. Gleich ob es „Taxi Driver“
oder „Dirty Harry“ war, „Easy Rider“ oder „Raging Bull“ – durchgehendes
Thema war, dass man von der Regierung nichts zu erhoffen hat, dass man
die Dinge in die eigenen Hände nehmen muss. Filme wie „Der Pate“,
„Chinatown“ oder „Midnight Cowboy“ hatten eine zutiefst zynische
Grundstimmung; eine Stimmung, die im ultimativen Anti-Vietnam-Film
„Deerhunter“ von 1978 ihren Höhepunkt fand. Einen ähnlichen Effekt hatte
der Krieg auf die Pop-Musik. Jimi Hendrix’ „Star Spangled Banner“ ist
sicher das deutlichste Beispiel für den desillusionierten, zynischen
Ton, der um sich griff. Aber auch die Musik von Jefferson Airplane,
Crosby, Stills and Nash, Bob Dylan sowie Dutzenden anderer waren
unmissverständlich von Vietnam beeinflusst. „Es war damals völlig
unmöglich, nicht darauf zu reagieren“, erinnert sich David Crosby in dem
Buch „Stand and Be Counted“ über den Zusammenhang von Pop und Politik.
Figuren
wie Hendrix, Jim Morrison oder Dylan waren ein neuer Typus von
Pop-Ikonen, „entfremdete Anti-Helden, die seither immer wieder in der
US-Popkultur auftauchen“, wie der Feuilletonist Patrick Goldstein in der
„LA Times“ schrieb. So hat Amerika Vietnam nicht zuletzt auch Tupac
Shakur und Kurt Cobain zu verdanken.
Politisch
markierte Vietnam den Startschuss zu jener unüberbrückbaren
ideologischen Teilung, die bis heute das Land plagt und die nicht
zuletzt Obama das Regieren beinahe unmöglich macht. Der Abzug aus
Vietnam befeuerte die Gegenkultur in ihrem Widerstand gegen Militarismus
und Imperialismus, die amerikanischen Konservativen hingegen glauben
bis heute, dass der Vietnam-Krieg einfach nur zu halbherzig geführt
wurde.
So benutzte das „Wall Street Journal“ in
dieser Woche das Saigon-Jubiläum, um erneut Obamas Außenpolitik zu
kritisieren. Die Lektion aus Vietnam, so der Kolumnist William McGurn,
müsse doch sein, Konflikte in Übersee konsequent und mit allen Mitteln
durchzuziehen. Es ist eine Debatte, die sich seit 1975 nicht geändert
hat. So, wie vieles in den USA seither festgefahren ist. Und eine
Besserung ist kaum in Sicht.
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